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»Rechtsstaat kapituliert vor Abtreibungsstrafrecht«

Prof. Spieker sprach in München über Spätabtreibungen und ihre Konsequenzen

Tim lebt. Er überlebte im Sommer 1997 seine eigene Abtreibung
Das ist Tim. Er überlebte im Sommer 1997 seine eigene Abtreibung
Foto von Stiftung Ja zum Leben mit freundlicher Genehmigung
mehr über Tim: www.tim-lebt.de

17.06.2006: Seit der Reform des § 218a im Jahre 1995 sind Abtreibungen bis zur Geburt auch wegen einer Behinderung des Kindes erlaubt. Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück, sprach in München über Spätabtreibungen und ihre Konsequenzen. Das Abtreibungsstrafrecht opfere "das Lebensrecht des Embryos dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren", sagt Spieker im KATH.NET-Interview. "Damit kapituliert der Rechtsstaat. "Ein Staat, der glaubt, er könne die Tötung Unschuldiger rechtlich regeln, ist ein Widerspruch in sich selbst. Er zerstört seine eigene Legitimitätsgrundlage."

Herr Professor, warum sprechen Sie ausgerechnet über Spätabtreibung – ist das nicht schon total überholt?

Professor Manfred Spieker: Überholt ist das Thema Abtreibung nie – im Gegenteil. Die Legalisierung der Abtreibung vor mehr als 30 Jahren hat dazu geführt, dass allein in Deutschland über acht Millionen Kinder vor der Geburt getötet wurden. Das heißt rund 20 Millionen Menschen in unserem Land – die Mütter, Ehemänner, Freunde, Eltern – sind davon betroffen. Niemand steckt eine Abtreibung weg wie eine überstandene Erkältung. Die Abtreibungsproblematik ist eine tiefe Wunde in unserer Gesellschaft und in unserer Kultur. Schon gar nicht überholt ist das Thema Spätabtreibungen. Das sind Abtreibungen im letzten Drittel einer Schwangerschaft, also etwa ab der 23. Woche. In dieser Zeit können die Kinder die Abtreibung überleben und das kommt oft genug vor. Ein Kind, das seine Abtreibung überlebt, bringt Ärzte wie Eltern in eine schizophrene Lage. Sie sind plötzlich verpflichtet, alles zu tun, damit das Kind, das getötet werden sollte, lebt und gut versorgt wird.

Was passiert dann in den Abtreibungskliniken?

Spieker: Die Kinder werden in der Regel in ein Tuch gewickelt und in einen Abstellraum gelegt, in dem sie sterben sollen. Der Fall Tim in Oldenburg (s. Foto) hat 1997 aller Welt gezeigt, wie es um die Kultur des Todes in Deutschland steht. Als dieser Junge, der seine Abtreibung in der 26. Woche überlebte, auch nach neun Stunden des unversorgten Liegenlassens nicht sterben wollte, im Gegenteil, sein Zustand sogar besser war als bei der unwillkommenen Geburt, hat man begonnen, ihn medizinisch zu versorgen. Der abtreibende Arzt ist 2004 zu einer Geldstrafe von 13.500 Euro wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden. Eigentlich hätte er wegen versuchten Totschlags zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden müssen.

Aber?

Spieker: Der Fall Tim hatte eine beträchtliche Wirkung auf die Politik. Die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) nannte den Fall „grauenvoll“ und forderte Reformen, die solche Fälle unmöglich machen sollten. Freilich dachte sie nicht an Reformen des § 218, sondern an Reformen des ärztlichen Standesrechts. Aber wie will man von den Ärzten etwas verlangen, wozu man selbst in der Politik nicht bereit ist? Alle Parteien waren sich damals und sind sich immer noch einig, dass man solche Spätabtreibungen unterbinden müsse. Deshalb spreche ich über dieses Thema. Es ist das Thema, bei dem der Gesetzgeber noch am ehesten bereit ist, über den Schutz des ungeborenen Lebens nachzudenken.

Woran sind die Diskussionen um den Paragraphen 218 immer gescheitert?

Spieker: Es ging immer um die Begrenzung der Spätabtreibungen, die schon wenige Monate nach der Reform des § 218 / StGB im Jahr 1995 einsetzten. Gescheitert sind sie immer daran, dass alle Parteien – CDU/CSU eingeschlossen – erklärten, sie wollten keine neue Diskussion über den § 218. Ohne eine solche Diskussion aber ist auch das Problem der Spätabtreibungen nicht zu lösen.

Hätten Sie einen Lösungsvorschlag?

Spieker: Ja! Die medizinische Indikation müsste auf eine unmittelbare Gefährdung des Lebens der Mutter beschränkt werden. Und das Arzt-Haftungsrecht müsste so geregelt werden, dass Ärzte nicht mit Unterhaltszahlungen bedroht werden können, wenn sie nach einer Pränataldiagnostik der Mutter eines vermutlich behinderten Kindes keine Abtreibung empfehlen. Die Begrenzung der zurzeit uferlosen medizinischen Indikation auf eine vitale medizinische Indikation setzt aber eine erneute Reform des § 218a voraus.

Sie sagten, die Parteien wollten keine Diskussion über den §218. In Ihrem Aufsatz „Der legalisierte Kindermord“ schreiben Sie genau das Gegenteil: CDU/CSU haben mehrmals Beschwerden vorgelegt und Korrekturversuche gemacht…

Spieker: Schon bei der Verabschiedung der Reform des § 218 im Bundestag 1995 hat der Abgeordnete Hubert Hüppe (CDU) darauf hingewiesen, was kommen wird. Das war noch zur Zeit der Regierung Kohl. Schon 1996, also noch im 13. Deutschen Bundestag, wurde versucht, das Problem zu diskutieren, erneut dann im 14. und 15. Bundestag, also zur Zeit der beiden Regierungen Schröder. Für den jetzigen 16. Bundestag wurde im Koalitionsvertrag vereinbart, das Problem anzugehen.

Ohne Erfolg?

Spieker: Bisher sind alle Versuche, das Problem zu lösen, gescheitert. SPD und Grüne glaubten nämlich, es damit lösen zu können, dass sie der Schwangeren ein im Mutterpass verbrieftes Recht auf Beratung gewähren. Aber auch CDU/CSU hatten immer nur den Vorschlag, die Schwangere nach einer Pränataldiagnostik mit einem positiven, also auf eine Behinderung des Kindes hindeutenden Befund, zu verpflichten, eine Beratung aufzusuchen. Eine solche Pflichtberatung, die dann wieder bescheinigt werden müsste, wäre aber keine Lösung des Problems. Sie brächte uns nur eine neue Scheindiskussion und ein solcher Schein wäre ein sicheres Todesurteil für das behinderte Kind.

Und das wäre die Kapitulation des Rechtsstaates, schreiben Sie. Worin besteht genau die Kapitulation?

Spieker: Ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er Privatpersonen nicht gestattet, ihre Rechte oder Interessen auf dem Weg privater Gewaltanwendung selbst durchzusetzen. Schon gar nicht kann es ein Rechtsstaat zulassen, dass Unschuldige getötet werden. Unser Abtreibungsstrafrecht aber opfert das Lebensrecht des Embryos dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. Damit kapituliert der Rechtsstaat. Ein Staat, der glaubt, er könne die Tötung Unschuldiger rechtlich regeln, ist ein Widerspruch in sich selbst. Er zerstört seine eigene Legitimitätsgrundlage.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Abtreibung und Verhütung?

Spieker: Die Abtreibungszahlen sind in allen Ländern der westlichen Welt bis Ende der 60er Jahre steil nach oben gegangen, also in jener Zeit, in der sich die "Pille", das heißt die hormonale Empfängnisverhütung ausbreitete. Gleichzeitig wurde das Abtreibungsstrafrecht in diesen Ländern Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre reformiert. Abtreibungen wurden legalisiert. Der Zusammenhang zwischen "Pille" und Abtreibung ist unübersehbar. Die "Pille" suggeriert die vollkommene Beherrschung des Empfängnisgeschehens beim Geschlechtsverkehr. Dies ist eine Illusion. Tritt trotz der "Pille" eine Empfängnis ein, ist die Bereitschaft, die "Panne" durch eine Abtreibung zu beheben, viel größer als bei einer natürlichen Empfängnisregelung. Es gibt auch Untersuchungen in Kliniken in Berlin und Krakau, die einen solchen Zusammenhang zwischen hormonaler Empfängnisverhütung und Abtreibungsbereitschaft nahelegen. Die Forderung an die katholische Kirche, sie möge doch die "Pille" zulassen, wenn sie schon so vehement gegen Abtreibung sei, verkennt diesen Zusammenhang.

KATH.NET: Warum billigt die Kirche die Pflichtberatung mit Ausstellung der Bescheinigung nicht?

Spieker: Weil er eine Tötungslizenz ist. Er dient einzig und allein dem Zweck, dem Arzt Straflosigkeit bei der Abtreibung zu gewähren. Die Straftat der Abtreibung wird für den Arzt durch den Beratungsschein zu einer medizinischen Dienstleistung, mit der er der Frau hilft, ihr Selbstbestimmungsrecht zu verwirklichen. Aber die Frau verwirklicht ihr Selbstbestimmungsrecht auf Kosten des Lebens ihres Kindes. Da kann die Kirche nicht mitmachen. Die katholische Kirche hat sich immer dafür eingesetzt, Schwangeren bei einer unfreiwilligen Schwangerschaft zu helfen – auch durch umfassende Beratung. Es ist fatal, dass katholische Laien den Verein „Donum Vitae“ gegründet haben, um trotz des päpstlichen Neins zum Beratungsschein diese Tötungslizenz weiter auszustellen. Sie verdunkeln das Zeugnis der Kirche für ein Evangelium des Lebens.

KATH.NET: Glauben Sie, dass es irgendwann Mal eine Lösung des Problems „Spätabtreibung“ geben wird?

Spieker: Ich hoffe es. Wer nur auf die deutsche Diskussion des Problems blickt, könnte versucht sein zu resignieren. Aber der Blick in andere Länder wie Polen oder die USA zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, eine jahrzehntelange Abtreibungspraxis zu ändern. In Polen sind die Abtreibungszahlen nach der Ersetzung einer Fristenregelung durch eine enge Indikationenregelung drastisch zurückgegangen. Das Verbot der Teilgeburtsabtreibung in den USA, einer besonders brutalen Methode der Spätabtreibung, bei der das Kind während des Geburtsvorganges umgebracht wird, zeigt ebenso, dass es möglich ist, die Kultur des Todes zurückzudrängen. Es wird auch erwartet, dass der Supreme Court das Urteil Roe v. Wade, mit dem 1973 die Abtreibung in den USA freigegeben wurde, und das neben einem Urteil von 1857, das damals die Sklaverei rechtfertigte, als das schlechteste Urteil in der Geschichte der amerikanischen Rechtssprechung gilt, in den nächsten Monaten revidieren wird. Es gibt also gute Gründe für meine Hoffnung.

Von Dorothea Treder, Quelle: kath.net

AREF, 17.06.2006

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