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Volkstrauertag

gesendet am 15.11.2015 von Dr. Hans Frisch
 

Der November fängt an mit Allerheiligen und Allerseelen, er endet mit dem Totensonntag - und heute ist Volkstrauertag. Den katholischen Feiertag hat ein Papst verordnet vor über 1.000 Jahren, den Totensonntag ein preußischer König vor fast 200 Jahren und der Volkstrauertag wurde zum ersten Mal 1926 in Deutschland begangen.

Der 1. Volkstrauertag

Soldatenfriedhof bei Verdun

Der erste deutsche Volkstrauertag soll in erster Linie dem Ehrengedenken unserer im Weltkriege gefallenen Väter, Brüder und Söhne gewidmet sein. Es ist nur zu wünschen, daß sich diese ernste Feier recht tief und fest und feierlich, auch ohne viele Reden und Gesänge, aus dem ureigenen deutschen und menschlichen Empfinden heraus geltend macht in den Herzen des ganzen Volkes, so stand es damals in einer Zeitung.

Zwei Millionen deutsche Soldaten waren im Ersten Weltkrieg gefallen, „Väter, Brüder, Söhne“. Das „Ehrengedenken“ mag für die Familien ein gewisser Trost gewesen sein, und das Wort „Heldentod“ hat wahrscheinlich die grausige Wirklichkeit des sinnlosen Massensterbens im Granatfeuer, im Nahkampf und auch im Giftgas etwas verdeckt. Insgesamt waren es 17 Millionen Kriegstote.

Aus Volkstrauertag wird Heldengedenktag

Bei den Nazis wurde aus dem Trauertag der „Heldengedenktag“ mit Aufmärschen, Musik und Fahnen.
Ein Gefreiter des Ersten Weltkriegs hatte sich aufgebaut zum „größten Feldherrn aller Zeiten“ - richtiger wohl: er wurde aufgebaut von den Besitzern der Waffenschmieden im Hintergrund. Es waren die gleichen, die ihr Geschäft mit Geschützen, Panzern, Granaten, Gewehren und auch Giftgaskartuschen gemacht hatten 20 Jahre früher, und jetzt wieder fette Aufträge bekamen. Da musste Stimmung gemacht werden, schließlich sollte ja das Volk alles bezahlen

Der Konkurrenz im Feindesland war das wohl recht, denn so entstand das Feindbild, dass sie brauchten zur Begründung ihres Geschäfts - und so gab es auch dort „Heldengedenktage“ für die von den Waffen der anderen Dahingeschlachteten. Dagegen musste gewappnet sein - und aufrüsten!

Leider war auch die Beseitigung der Kapitalisten, die an der Rüstung verdienten, nicht die Lösung, denn das Reich des Sozialismus musste auch wehrhaft sein, und wollte siegreich werden. 1941 besaß die Sowjetunion die größte Armee der Welt mit den meisten Panzern und Flugzeugen, und sie zeigte ihre heldenhaften Soldaten mit dem Waffenarsenal in großen Paraden.

Als es dann losging, da wirkte der Erste Weltkrieg wie eine Vorübung – mehr als doppelt so viele deutsche und fast viermal so viele russische Soldaten sind im 2. Weltkrieg gefallen. Dazu kommen noch achtmal mehr zivile Opfer als Soldaten.

Über 100 Millionen Kriegstote im 20. Jahrhundert

Die Zahl der Kriegsopfer im ganzen 20. Jahrhundert wird auf 100-185 Millionen Menschen geschätzt. Nürnberg hat eine halbe Million Einwohner, wenn alle getötet würden, vom Baby bis zum Greis, und das 360 mal, dann wäre diese Opferzahl erreicht. Es sind doppelt so viele wie es Deutsche gibt.

Und all denen - auch noch den Opfern von Gewalt und Terror - gilt heute unsere Trauer.

Musik

Was kann angeordnete Trauer leisten?

Man kann einen Menschen ermahnen: „Freue dich!“, und ihm aufzeigen, dass er Grund zur Freude hat, auch wenn es nur das schöne Wetter wäre. „Traure!“ ist kaum von jemandem zu verlangen, allenfalls wenn man ihn erinnert an den Menschen, den er verloren hat.

Ein Trauertag im Kalender, für das ganze Volk, Trauer über Millionen Tote, das geht eigentlich nicht. Doch, im alltäglichen Lauf des Lebens gemeinsam innehalten und hinschauen auf das Unvorstellbare, dass in unserer Zeit und in unserem Volk geschehen ist, ja, getan wurde, das macht Sinn.
Nichts können wir daran ändern - doch es könnte uns verändern.

Millionen Deutsche haben Hitler zugejubelt, er hatte ihnen Hoffnung und Stolz geschenkt. Ich war damals ein Pimpf, doch habe ich die Begeisterung gespürt und wurde angesteckt. Die meisten werden nicht geahnt haben, auf welchem Weg sie waren. Sie suchten Freude und Spaß, Erfolg und Liebe - so wie wir. Wenn hier und da etwas Verstörendes auftauchte - man hielt es für Einzelfälle. „Wenn der Führer das wüsste“ - damit rettete man die Illusion. Wer den Durchblick hatte, der schwieg in der Öffentlichkeit - oder verschwand im Gefängnis.

Danach sahen alle: die Einzelfälle waren das System, ja, die hier und da auftauchende Oberfläche eines abgrundtief bösen Systems. „Die hätten das wissen müssen“ ist die Meinung der Nachgeborenen. Vielleicht wollten sie es nicht wissen, denn es hätte den Spaß verdorben und es hätte Konsequenzen verlangt, die kaum einer sich zutraute - und die aussichtslos waren.

Wenn wir heute voll Trauer hinschauen auf das so unfassbar Böse, das so viele Opfer gefordert hat, dann könnte es geschehen, dass unsere Maßstäbe korrigiert werden. Spaß, Erfolg, Geltung sind weniger wichtig als es scheint. Wir können plötzlich Situationen, Menschen, Ereignissen begegnen, wo wir nicht wegschauen oder vorbeigehen sollten, auch wenn es Mut verlangt oder etwas kostet.

70 Jahre ohne Krieg

Nach 70 Jahren ohne Krieg (bei uns) könnten wir uns beruhigen: „Wir leben doch in Sicherheit. Das System des Bösen in unserer Nachbarschaft ist zusammengebrochen, es gibt keine geheimen Absichten der Regierenden, unsere Reiselust wird von keiner Grenze blockiert und unserer sozialen Netzwerke sind global. Wie traurig war das früher! Doch das braucht uns die Weihnachtsfreude, die Silvesterfeier und den Faschingsspaß nicht zu verderben.“

Wenn wir ehrlich sind, so ganz ruhig sind wir nicht. Es sind nicht Panzer und Kanonen, die uns unheimlich sind, auf den Kampfplätzen des Finanzwesens tobt ein ständiger Kampf. Schneller als wir denken können schießen Millionen und Milliarden um den Globus, von Börse zur Börse. Ständig gibt es Sieger und Verlierer. Und plötzlich kann es wieder eine große Explosion geben mit grandiosen Schäden. Die meisten von uns stecken nicht tief in diesem System, doch kaum einer wird von den Folgen nicht betroffen. Auch wenn die Kriege mit immer neuen Toten, von denen wir hören, und sehen, weit weg sind, wir stehen nicht auf ganz sicherem Grund – und mit den Flüchtlingen kommen Sie uns jetzt ganz nah.

Musik

Es begann mit einem Brudermord

360 mal alle Menschen in Nürnberg oder zweimal alle Bewohner Deutschlands – so viel Kriegstote hat das vergangene Jahrhundert gefordert. Es war unser Jahrhundert - es dürfte das blutigste der blutigen Menschheitsgeschichte sein.

Die Geschichte begann mit Kain und Abel - dem Brudermord. Die Hieroglyphen-Berichte der ägyptischen Pharaonen künden von großen Siegen, die Siegestafeln der Assyrer zeigen Reihen von gepfählten Menschen vor den besiegten Städten, die Babylonier haben gekreuzigt - ihr Reich wurde besiegt und abgelöst von den Persern, die von den Griechen - schließlich hatte Rom ein Weltreich von Indien bis Schottland - und immer Kriege!

Von Anfang an war Religion dabei: Bei Kain und Abel ging es um das bessere Opfer, bei den Großreichen um die größten Götter und heilige Herrscher. Wer die auslöschen wollte, der müsste auch die großen Kulturen wegdenken.

Die Geschichte blieb blutig auch im christlichen Abendland, besonders als der Islam auftauchte. Schließlich wurde in der französischen Revolution die Vernunft zur Gottheit erhoben - Richtschwert und Scheiterhaufen wurden abgelöst von der Guillotine, die war effektiver. Die Enthauptungen waren fast im Fließbandverfahren möglich.Napoleon brachte wieder den normalen Krieg.

Das 20. Jahrhundert mit Kommunismus, Faschismus, Maoismus, Terrorismus ist wie ein Finale. So könnte man die Weltgeschichte anschauen am Volkstrauertag angesichts der Opfer von Krieg, Gewalt und Terror. Doch es ist nur die blutige Spur des Bösen durch eine Menschheit voller Gemeinschaft, geduldiger, fleißiger und meisterhafter Arbeit, Hilfsbereitschaft und Liebe.

In unseren Tagen wird die Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe auf eine harte Probe gestellt – doch ein Europa, das 70 Jahre von Kriegen verschont ist, müsste Gewaltiges vollbringen können.

Wirklich traurig ist, dass beides, das Gute und das Böse, gleichzeitig unter uns ist, ja in uns ist. Der Mensch trat ein in den Raum der menschlichen Freiheit, als er vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hatte - so beschreibt es die Bibel. Besser kann man es nicht beschreiben.

Die Geschichten der Bibel und die Geschichte der Menschheit erzählen von diesem dramatischen Raum. Doch mitten in diesem Drama und durch es hindurch zeigt das Alte Testament eine Offenbarungsgeschichte, über Abraham, Mose, David und schließlich in der Katastrophe der babylonischen Gefangenschaft die messianischen Propheten – hin auf eine Befreiung und Erlösung, nicht nur Befreiung aus der Gefangenschaft sondern Erlösung auch aus der Bindung an das Böse und aus der Schuld.

„Als die Zeit erfüllt war“, da wurde Jesus geboren. Zwei Kaiser sind zitiert in seiner Lebensgeschichte: „Es geschah aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde“ – bei der Geburt, und: „Wenn du diesen nicht kreuzigst, so bist du des Kaisers Freund nicht“ - mit dieser Drohung wird Pilatus genötigt, Jesus zu kreuzigen. Der Kaiser ist Tiberius.„Aus Liebe zu dir sterbe ich“ - so sagt der am Kreuz; „Aus Liebe zu dir lasse ich ihn sterben“ so sagt Gott.

So dramatisch kommt diese Offenbarungsgeschichte ans Ziel. Die Jünger konnten es erst verstehen, als Jesus ihnen als der Auferstandene begegnete nach Ostern - sie haben es bezeugt. So ist diese Botschaft durch zwei Jahrtausende lebendig und wirksam geblieben. Sie gilt auch mir und dir.

Was das mit dem Volkstrauertag zu tun hat?

Das Übel und das Böse, das wir da sehen, und all das Üble und Böse, an dem wir beteiligt sind - das ist Thema dort am Kreuz - und es darf Vergangenheit sein, wenn wir in der Liebe leben, die uns da geschenkt wird.

Für mich bringt das Licht und Zuversicht, nicht nur in das Dunkel dieses Tages.

Dr. Hans Frisch