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Totensonntag 2009

gesendet am 22.11.2009 von Dr. Hans Frisch
 

Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, und heute ist Totensonntag. Damit ist das Thema für die Sendung vorgegeben. Was da zu feiern ist? Man kann feierlich der Toten gedenken, seiner Toten, und das geschieht ja auch bei vielen und an vielen Orten.

So war es auch gedacht, als König Friedrich Wilhelm III 1816 den Tag einführte. Als oberster Herr der protestantischen Kirche in Preußen konnte er das. "Der letzte Sonntag im Kirchenjahr soll dem Gedenken der Verstorbenen geweiht sein". Viele dachten da an die Toten der Freiheitskämpfe gegen Napoleon - der König dürfte der Königin Luise gedacht haben. Ihr wunderbares Grabmal war im Jahr davor fertig geworden (übrigens von dem Bildhauer Christian-Daniel Rauch, der auch den Albrecht Dürer an Dürerplatz geschaffen hat).

Um der Toten des Ersten Weltkriegs zu gedenken, wurde 103 Jahre später der "Volkstrauertag" eingeführt, eine Woche früher. Da hatte der Enkel jenes Preußenkönigs schon abgedankt, als deutscher Kaiser.

Mit überraschender Wucht ist der Volkstrauertag vor einer Woche wieder ins Bewusstsein gekommen: Ein Held auf dem Weltkampfplatz des Fußballs ist tot (Nationaltorwart Robert Enke). 40.000 Menschen, aus ganz Deutschland zusammen geströmt, füllen ein Stadion, die Fernsehsender zeigen ernste, trauernde, weinende Gesichter, ernst und mahnend sind die Ansprachen bedeutender Personen, immer wieder kommt die traurige Witwe ins Bild, in fast allen Zeitungen ist das Ereignis (mit Bild) auf der Titelseite. Im Mittelpunkt, exakt im Mittelpunkt steht der Sarg. Es ist eine würdige große Feier im Angesicht des Todes, und mancher, der sonst nicht betet, wird das Vaterunser mitgesprochen haben. Das war am Volkstrauertag - und heute ist Totensonntag.

Ich weiß nicht, ob das Verbot lustiger öffentlicher Feiern und Musik noch gültig ist, doch erscheint es mir ganz gut, das am Ende des Kirchenjahres und am Beginn der "närrischen Zeit" noch einmal Besinnung einkehrt - Besinnung auf das, was seit Menschengedenken zum Wichtigsten gehört, und das seit Menschengedenken immer wieder verdrängt wird - verdrängt werden muss - um des Lebens willen - Besinnung auf den Tod. Das Ausmaß der Betroffenheit vom Tod eines Mannes offenbart doch die Bedeutung, die der Tod in der Tiefe für uns hat. (Anm. d. Red.: Es gibt in Bayern neun "Stille Tage".)

Musik

Die größten Zeugnisse frühester Kultur sind Gräber, und die ältesten, und schönsten Zeugnisse des Glaubens an eine Wirklichkeit, ein Leben über den Tod hinaus, sind Grabbeigaben. Hier dürfte die Entwicklung der Religionen ihren Ursprung haben - und im Stadion von Hannover wurde sichtbar, wie eng der Tod mit religiöser Erfahrung verbunden ist. Wahrscheinlich, um das Bedrückende bei der Konfrontation mit dem Tod zu mildern, wird der Totensonntag auch als "Ewigkeitssonntag" gefeiert - mit dem Blick über den Tod hinaus.

Robert Enke, und die 10.000 Menschen, die in einem Jahr ihr Leben beenden, weil sie nicht mehr leben wollen und nicht mehr leben können - die hatten diesen Blick wohl kaum, und bis vor kurzem wurde ihnen auch noch von den Kirchen die ewige Verdammung zugesprochen. Gott sei Dank, das ist vorbei. Gott sei Dank ist die Depression als Krankheit erkannt und kann behandelt werden, wenn auch nicht immer erfolgreich.

Es muss schon nachdenklich machen, wenn wir erkennen, dass ein halbes Milligramm Serotonin im Kopf entscheidet, ob wir uns am Leben freuen können oder verzweifeln - verzweifeln mitten im Erfolg, als anerkannte, vielleicht sogar berühmte Menschen, geliebt und gebraucht. Es sollte uns nachdenklich machen und dankbar, wenn wir selbstverständlich mit Freude, Hoffnung und Zuversicht leben können, weil das halbe Milligramm einer Substanz im Gehirn am richtigen Platz in der richtigen Konzentration ist und richtig umgesetzt wird. Dass wir das alles aber einer winzigen Menge einer relativ einfachen chemischen Substanz verdanken, das ist schon unheimlich. Vielleicht ist es eine Ahnung davon, die uns nötigt, das Gewicht und die Bedeutung des da erloschenen Lebens zu betonen und zu behaupten, weil wir damit Gewicht und Bedeutung unseres Lebens gegen Zweifel sichern.

Thornton Wilder hat eine Geschichte geschrieben: "Die Brücke von San Luis Rey". Es ist eine Hängebrücke über eine tiefe Schlucht, die schönste Hängebrücke in Peru. Fünf Menschen begegnen sich zufällig auf dieser Brücke in dem Moment, als sie reißt, und alle stürzten in die Tiefe. Sehr gewissenhaft begleitet der Erzähler die Personen auf ihrem Weg, der sie auf die Brücke geführt hat, und er sucht Beziehungen, Ursachen, Sinn in dem Zusammentreffen dort im Tod - er findet sie nicht. "Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn". Das ist sein Schlusssatz.

Die gleiche Erkenntnis dürfte dahinter stehen, wenn in Filmen oder Berichten die Worte vor dem sicheren Ende am Telefon oder im Brief lauten: "Ich liebe dich", und auch die Antwort sind. Auch bei der suchenden Fahrt der Fernsehkameras über die Gesichter dort in Hannover kamen sie zur Ruhe beim Blick auf die in ihrer Liebe trauernden Frau von Robert Enke. Was, wenn nicht die Liebe, könnte den Abgrund zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Toten überbrücken?

Musik

"Da ist ein Land der Lebenden und einer Land der Toten, die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe." Doch diese Brücke führt in zwei Richtungen: mit unserer bleibenden Verbindung in Liebe strahlt gewissermaßen Licht aus dem anderen Reich in unsere Wirklichkeit, und erhellt das uns drohende Dunkel des Todes.
Offen bleibt, ob wir dieses tröstende Licht ins Nichts hineinprojizieren, um uns zu trösten. "Das einzig Bleibende, der einzige Sinn", behauptet Thornton Wilder, ist die Liebe.

Das Land jenseits des Todes kann man glauben oder nicht - es ist so wenig zu beweisen wie die Liebe, aber es ist auch so sicher wie die Liebe. Glaube an dieses Land, jenseits des Todes, hat die größten Kulturzeugnisse der frühesten Menschheitsgeschichte hervorgebracht - und die Grabbeigaben sind die schönsten Zeugnisse dieses Glaubens. Die Entfaltung dieses Glaubens in der Religionsgeschichte war für lange Zeit das Fundament menschlicher Kultur. Offen bleibt auch hier, ob sich darin die Wirklichkeit Gottes offenbart, oder ob der Mensch sein Gottesbild ins Nichts projiziert, um dem Leben standzuhalten. Da kann man glauben oder nicht. Bevor man sich entscheidet, sollte aber bewusst sein, was man da glaubt oder nicht glaubt. Mit vielen, die ihren Unglauben bekennen, bin ich einer Meinung: Das was sie ablehnen, das kann man nicht glauben - und wenn man die Kirche, die den Glauben verkündet, beurteilt nach den Missbrauch, dann gehört der Glaube fast verboten.

Wer aber zur Quelle kommt, den Offenbarungsgeschichten in der Bibel, von Abraham über Mose, David, Jesaja, Jeremia bis zu Jesus, wer Jesus begleitet von seiner Geburt bis ans Kreuz, der kann eine klare Entscheidung treffen, ob er damit etwas zu tun haben will oder nicht. Der aufgezeigte Weg der Offenbarung Gottes in der Bibel endet mit dem Tod Jesu am Kreuz. Und dieses Todes, besonders dieses Todes sollte man gedenken am Totensonntag. Es ist die Hinrichtung eines absolut Unschuldigen, eine Hinrichtung gegen die er sich nicht gewehrt oder verteidigt hat, die er freiwillig auf sich nahm, weil er glaubte, es ist für uns, für mich.

Die Brücke, die mich mit dem dort am Kreuz verbindet, ist die Liebe. Und aus der Wirklichkeit, in die er eingegangen ist, kommt die Botschaft: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben" (Johannes 3, 16). Wenn du meinst: "Für mich war so ein massiver Liebesbeweis nicht nötig" - nimm ihn trotzdem an. Es gibt viele die ihn unbedingt nötig haben!

Wenn Du bei ihm bleibst, der da gestorben ist und ins Grab gelegt wurde, dann kannst Du die Botschaft hören: "Es war nicht das Ende, es war der Anfang". Denen, die damals mit ihm zusammen waren, und sich jetzt enttäuscht und verzweifelt verstecken, ihnen begegnet eine völlig neue Wirklichkeit - die Liebe Gottes hat sich dort am Kreuz offenbart, absolut, endgültig, heilig.

Jesus hatte für diese Wirklichkeit ein Gleichnis erzählt, vom verlorenen Sohn. Der ließ sich sein Erbe auszahlen, verjubelte es und landete bei den Schweinen. Als er zum Vater zurückkommt, läuft der ihm entgegen, umarmt und küsst ihn und lässt ein Fest der Freude ausrichten, für den verlorenen und wieder gefundenen Sohn.

Wenn jemand meint: "Ich mache meinen Weg allein, das habe ich nicht nötig", auch der kommt in den Gleichnis vor: Der ältere Sohn war beim Vater geblieben, hatte seine Wünsche zurückgestellt und mitgearbeitet. Er ist sauer, als er vom Feld kommt, den Festlärm hört und den Anlass erfährt - als ob das Leben mit dem Vater und dessen Liebe selbstverständlich gewesen wären und keinen Wert hätten.

"Ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen was verloren ist", sagte der, der seinen Jüngern sagt: "Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde" - in den Abschiedsreden, vor dem Ende am Kreuz. Erst nach Ostern verstehen sie es, und haben Zugang zu der neuen Wirklichkeit: das Leben in der Liebe, die vom Tod nicht berührt wird. Wenn wir das erkennen und annehmen, dann können wir den Totensonntag als Ewigkeitssonntag feiern.