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Nach dem WTC-Terror-Anschlag
gesendet am 23.09.2001 von Dr. Hans Frisch
 

Wie wird aus einem ruhigen, liebenswürdigen Studenten ein Selbstmord-Attentäter?

WTC-Attentäter
Mohammed Atta

Zu dem Anschlag auf das Welthandelszentrum ist wohl schon alles gesagt und geschrieben, sind alle Bilder gezeigt - wieder und wieder.

An dem Anschlag auf das Welt Handelszentrum kommt man trotzdem nicht vorbei - das Ereignis steht so unbegreiflich vor uns, dass es eigentlich das Weiterdenken blockiert. Deshalb ist die Versuchung groß, emotional zu antworten, nicht nur mit Schock, Trauer, Anteilnahme sondern auch mit Wut und Hass - denn Wut und Hass müssen doch die Motive der Selbstmordattentäter gewesen sein.

Was müssen das für Verbrecher sein, die so etwas planen und durchführen ?

Attentäter Mohammed-Atta auf dem Weg ins Flugzeug
Attentäter Mohammed-Atta auf dem Weg ins Flugzeug

Da hat der amerikanische Präsident doch recht, wenn Er zum "monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse" aufruft - und natürlich den "Sieg des Guten" verheißt. Und jetzt werden plötzlich Gesichter einiger der Verbrecher sichtbar - und ein Professor in Hamburg erkennt in einem seinen freundlichen, sehr intelligenten, intellektuellen, hilfsbereiten, sehr klar denkenden, lächelnden Studenten, dem er für eine Diplomarbeit über die Zukunft der Altstadt von Aleppo die Note 1 gegeben hatte.

Zwei Drittel der ehemaligen Kommilitonen hatten Atta, wie sie ihn kurz nannten, auch wiedererkannt; einige, die ihn näher kennengelernt hatten, bekamen einen Nervenzusammenbruch. Atta leitete die "Islam AG", eine Arbeitsgemeinschaft, die einen Gebetsraum für islamische Studenten in einer Baracke vor der Universität eingerichtet hatte, damit diese nicht auf den Korridoren beten mussten.

"Ich habe streng religiöse Studenten gehabt", sagt Professor Machule, "bei denen ich nicht wusste, wozu ihre radikale Religiosität sie alles verleiten könnte" - und diese Studenten, die dem westlichen Klischee von einem fanatischen Gläubigen viel eher entsprochen hätten, stellten sich als friedliebende Menschen heraus. Atta dagegen sei ganz ruhig und liebenswürdig gewesen.

So bekommen wir einen Eindruck von einem der Verbrecher: freundlich, sehr intelligent, hilfsbereit, klar denkend, lächelnd, ruhig, liebenswürdig. Ein ehemaliger Kommilitone schreibt ihm ungeheure Präzision in Denken zu. Bei plötzlichen Schwierigkeiten habe er geschickt und virtuos reagiert. Und dann sagte er etwas, was der Anfang einer Spur sein könnte zu den Motiven dieses Selbstmordattentäters:.

"Er stand den Errungenschaften der westlichen Welt skeptisch gegenüber ... Die rasende, sich immer weiter beschleunigende Amerikanisierung seiner Heimat, der Einzug der Moderne in den arabischen Raum, das passte ihm nicht."

Es kann nur eine Fantasiespur sein, der wir folgen - ich weiß nicht, ob so etwas in diesem Zusammenhang überhaupt zulässig ist - doch möchte ich es versuchen. In Aleppo wollen wir uns nach der Musik auf den Weg machen.

* * * Musik * * *

"Khareg Bab-en-Nasr: Ein gefährdeter Altstadtteil in Aleppo. Stadtteilentwicklung in einer islamisch-orientalischen Stadt" steht auf den Titelblatt. Darunter Pläne und Fotos von alten Häusern und engen Gassen, das Bild von zwei lächelnden Kindern. Der Verfasser der Diplomarbeit ist Mohamed El Amir Awad Elsayed Atta.

Ein Viertel in Altstadtzentrum der syrischen Stadt Aleppo wird beschrieben, die engen Sackgassen und Straßen, das ruhige Leben, die Händler in ihren kleinen Läden. Auch wie Moslems, Christen und Juden seit jeher hier ideal zusammen lebten.

Die FAZ, aus der die Informationen stammen, berichtet weiter: "In den arabischen Ländern muß ein anderes Verständnis von Denkmalschutz erreicht werden", schreibt der Verfasser; er würde es "Werteschutz" nennen wollen. Die "Werte" - das sind das funktionierende Gewerbe von kleinen Händlern, der intime öffentliche Raum in den Sackgassen, der dörfliche Charakter der Altstadt, die regionale Bindung der Menschen - all das, was Globalisierungskritiker durch jenen Welthandel gefährdet sehen, für den das World Trade Center als Symbol stand. Der Verfasser erhielt die Note 1 für eine Arbeit, die präzise gegen die Zerstörung von menschlicher Lebensqualität durch anonyme Mächte argumentiert und sanftere Lösungen zeigt.

Unsere Phantasiespur beginnt also bei einem engagierten Studenten der Stadtforschung, der die Problematik der Altstadt von Aleppo zu seinem Thema gemacht hat. Wenn wir die Spur aufnehmen und Aleppo im Internet anklicken, dann öffnen sich Fenster in eine Welt.
Nürnberg hat seine 950 Jahr-Feier hinter sich - Aleppo blickt auf eine 5000 jährige kontinuierliche Geschichte zurück und gehört mit Damaskus und Jericho zu den drei ältesten Städten der Welt.

Nürnberg wuchs im Mittelalter zur Handelsstadt, weil es an der Kreuzung zweier wichtiger Handelsstraßen liegt - Aleppo war in der Zeit eine der wichtigsten Handelsmetropolen des Orients.

Nürnberg wuchs zu einer Stadt von einer halben Million Einwohnern - Aleppo ist eine 2-Millionen Stadt. In Nürnberg wurde die Altstadt nach der Zerstörung wieder aufgebaut und wird zunehmend als Wohnquartier wieder angenommen - in Aleppo sind die wohlhabenden Bürger in die moderneren Randgebiete gezogen und haben die Altstadt den ärmeren Schichten überlassen, so daß der Verfall einsetzte.

Große Teile der Nürnberger Altstadt sind Fußgängerbereiche - in Aleppo wurden in den fünfziger Jahren breite Straßen durch die Altstadt gebaut.

Seit 20 Jahren versuchen die Bürger und die Stadtverwaltung die Altstadt von Aleppo zu retten. Die Stadt wurde 1986 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Die Bilder und Texte über diese uralte lebendige Kulturstadt verlocken zum Besuch - der alte überdachte Markt, die gewaltige Zitadelle, die kleinen Läden, das ruhige Leben. Mit dieser Stadt, ihren Problemen, ihre Zukunft hatte sich Atta verbunden - so intensiv, daß er eine beeindruckende Vorstellung der Rettung und Entwicklung gewann.

Er ist dem begegnet, was ein Orientforscher als "heiligen Raum" in Aleppo bezeichnet, der besteht aus allen äußeren sichtbaren Aspekten der Religion - den religiösen Gebäuden, dem Kultus und der Verwaltung und Finanzierung der Religion, aber auch den Beziehungen der Religion mit anderen Sphären.

Wir können in unserer Phantasie diesen engagierten jungen Stadtforscher durchaus noch fern aller islamisch-fundamentalistischen Tendenzen sehen. Als ein Kind aus einer gut situierten islamischen Familie, der Vater ein Anwalt im Kairo, offensichtlich mit guter Schulausbildung und intakter religiöser Prägung.

Als intelligenter Junge hat er die Gefährdung islamischer Ordnungen und Strukturen durch den westlich-amerikanisch geprägten Einfluß beobachtet. In Aleppo besuchte er als Student den Hamburger Professor, der dort nach bronzezeitlichen Funden gräbt - und der versucht, seine ausländischen Studenten zu kritischer Stadtplanung in den Heimatländern zu motivieren. Atta wird einer seiner besten Schüler.

Das Eintauchen in die Urgeschichte dieser Stadt, die unter dem Islam eine wunderbare Blütezeit erlebte, die Begegnung mit Resten dieses noch intakten islamischen Lebens in Harmonie mit sich selbst und mit den anderen, das Erlebnis der schon erfolgten und noch fortschreitenden Zerstörung dieser Ordnung und Strukturen durch moderne westliche Einflüsse - das mußte die Kritik wach rufen und Ängste wecken.

Wenn auch mit deutscher Hilfe und unter dem Schirm der UNESCO die Altstadt von Aleppo zu retten wäre - die rasende, sich immer weiter beschleunigende Amerikanisierung, der Einzug der Moderne in den arabischen Raum, der ist nicht aufzuhalten. Und dann fährt dieser Student zu den Semesterferien in seine Heimat.

* * * Musik * * *

Von dem, was in dem Heimaturlaub geschah, gibt es keinerlei Belege - nur, daß Atta mit einem Bart nach Hamburg zurück kommt. Wir können also unsere Phantasie freilassen:

Begrüßung in der Familie, Treffen mit Freunden, Gespräche und Fragen über das Studium, über Deutschland, über die Diplomarbeit. Einer der Freunde horcht auf, als Atta von Aleppo, von seinen Bemühungen, seinen Erfolgen und seiner Angst erzählt. Er lädt ihn ein zu einem Treffen von jungen Männern, die diese Angst teilen - aber sich nicht damit abfinden wollen.

So kommt er in einen Kreis von Freunden, die den Islam bedroht sehen von dem Einfluß des Westens. Geistliche Führer zeigen ihnen die Weisung Gottes im Koran - Kampf gegen die angreifenden Feinde! Allah wird den Sieg über die Ungläubigen schenken.

Er wird eingeweiht in die Existenz einer Kampforganisation und ist beeindruckt von dem Ernst, dem Mut und der Organisation seiner neuen Freunde, seiner Glaubensbrüder. Noch nie hatte er eine so ernsthafte Gemeinschaft im Glauben erlebt - und seine Freunde sind beeindruckt von seiner Intelligenz und seinen Fähigkeiten, von seiner Kenntnis der europäischen Verhältnisse.

Die Führer zeichnen ihn aus durch persönlichen Kontakt und Vertrauen - und es könnte sein, daß er schon hier eingeweiht wird in die Pläne für New York. Den brennenden Eifer eines Neubekehrten wußten die Führer bestimmt zu nutzen. Mit einem neuen Selbstbewußtsein fährt er zurück zum Studium.

In Hamburg erlebt er, wie funktionsfähig das Netzwerk ist, in das er in der Heimat einbezogen wurde. Er bekommt Informationen, Einladung zu Treffen die ihm neue Freunde und Brüder geben, bekommt Weisung und Training. Auch hier in Deutschland sind Geistliche, die aus dem Koran die Aufforderung zum Kampf lesen - und die Ermahnungen Allahs zu bedingungslosem Einsatz, ohne Angst vor dem Tod, der die Kämpfer ja direkt ins Paradies bringen würde.

Es kann sein, daß die weiteren konkreten Schritte von den Ermittlungen aufgedeckt werden - wir wollen auf unserer Phantasiespur ja nur erkunden, wie ein ruhiger, liebenswürdiger Student zu einem Selbstmordattentäter werden könnte.

Wer die Verse über den Krieg im Koran liest, der wird da kein Mitleid mit dem Ungläubigen Feind finden - aber auch keinen Haß. Auch sie stehen in Allahs Hand - zum Gericht, und wenn sie umkehren zur Vergebung und Barmherzigkeit.

Was zählen aus dieser Sicht 5000 Tote gegen die Millionen und Abermillionen Drogenopfer, Aidskranken, Prostituierten, Alkoholiker und was sonst noch als Opfer des amerikanischen "way of life" und der anonymen kapitalistischen Weltmächte angesehen wird.

Noch einmal: es geht bei der Phantasiespur nur um den Versuch, sich den Weg eines Einzelnen in dieses Netzwerk vorzustellen - über die Hintermänner, die Drahtzieher in dem Netz, über deren Absichten und Ziele können selbst hochrangige Spezialisten nur Vermutungen anstellen.

Was für Absichten und Ziele wir mit unserem Versuch verfolgen ?

Keine! Vielleicht verbinden wir die Hoffnung damit, dass die Blockierung des Weiterdenkens etwas durchlässig wird und wir nicht zu sehr unseren Emotionen, vor allem nicht der Wut und dem Hass ausgeliefert sind. Die Psychologie sagt: "Das Unbewußte ist das Böse" - deshalb ist das Ringen um bewußtes Erkennen auch Kampf gegen das Böse.

In dem Artikel schreibt die FAZ:
"Und diese Unerkennbarkeit des Terrors und der Terroristen ist es wohl, die nicht nur in Hamburg ein fast hysterisches Unsicherheitsgefühl hervorruft. Obwohl ein Großteil der Medien zur Differenzierung aufrufen, werden gläubige Moslems immer häufiger so dargestellt, als seien sie aggressive, unberechenbare Maschinen, die auf Knopfdruck alles Menschliche ablegen könnten."

Die Reaktionen aus solchen Vorstellungen können schlimm sein - besonders, wenn sie durch ein Trommelfeuer mit Bildern des Anschlags auf allen Kanälen verstärkt werden.

Dr. Hans Frisch

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11.09.2001 - WTC-Anschlag