|  
       Lukas 24, 13-35 gesendet am 21. Mai 2000 von Peter Athmann  | 
     
       | 
  
"Du hast wohl Tomaten auf den Augen!?"
Diesen mehr oder weniger liebevollen Kommentar haben wir wohl alle schon mal gehört:
- wenn wir ganz in Gedanken bei Rot über die Ampel gehen und erst durch die quietschenden Bremsen aus unseren Träumen gerissen werden,
- wenn wir mal wieder gegen einen Tisch rennen, der gerade eben ganz bestimmt noch nicht da stand,
- oder wenn wir im Supermarkt nach einem bestimmten Artikel fragen, und die Verkäuferin milde lächelnd genau auf das Regal zeigt, vor dem wir gerade stehen.
Manchmal sind wir eben so mit uns selbst beschäftigt, dass wir die Welt 
    um uns herum gar nicht richtig wahrnehmen können - oder wollen: wenn 
    uns alles zuviel wird, wenn wir uns am liebsten nur noch verkriechen wollen 
    und nichts und niemanden mehr an uns heranlassen. 
    Genau so ging es den beiden Jüngern, die auf dem Weg nach Emmaus waren: 
    bloß raus aus der überfüllten großen Stadt, bloß 
    schnell Abstand gewinnen zu den grausamen Ereignissen, die hinter ihnen lagen: 
    der Hinrichtung ihres Anführers, dem Ende ihrer Träume von der Befreiung 
    ihres Volkes aus der Abhängigkeit von der römischen Besatzungsmacht. 
    
    Sie hatten so sehr gehofft, dass Jesus der von Gott versprochende Messias 
    war, der das Schicksal ihres Volkes zum Guten wenden würde, und waren 
    zutiefst enttäuscht worden. 
  
Irgendwo auf dem Weg holt ein Wanderer sie ein, sieht ihre langen Gesichter 
    und fragt was los ist. Fast wütend fragen sie ihn: "Hast du wohl Tomaten 
    auf den Augen? Hast du als einziger nicht mitbekommen, wovon die ganze Stadt 
    seit Tagen spricht?" 
    Eine übertriebene Reaktion, aber auch eine typische. Übertrieben 
    deshalb, weil es schlicht unmöglich ist, dass alle zweihunderttausend 
    Pilger, die zum Passafest nach Jerusalem gekommen waren, den Prozess und die 
    Kreuzigung Jesu mitbekommen haben. 
    Und typisch deshalb, weil wir - genau wie die Emmaus-Jünger - grundsätzlich 
    davon ausgehen, dass das, was uns gerade am meisten betrifft, auch von unserer 
    Umgebung gefälligst für wichtig gehalten wird. Wenn wir traurig 
    sind, dann stören uns die um uns herum, die fröhlich lachen können. 
    Und wenn wir glücklich sind, dann soll uns bloß keiner mit einem 
    Problem kommen und uns aus unserem Glücksgefühl herausreißen. 
    
    So wie Lukas uns diese Begebenheit erzählt, ist sie fast amüsant: 
    die Jünger werfen ihrem neuen Begleiter vor, dass er keine Ahnung hat 
    - und dabei sind sie selbst es, die nicht mitbekommen, was los ist: das es 
    Jesus ist, der da mit ihnen geht, derjenige, den sie schon längst aufgegeben 
    haben. 
    Sollen wir den Jüngern jetzt Vorwürfe machen, dass sie Jesus nicht 
    erkennen? 
    Nein, darum geht es in unserem Text wirklich nicht. Lukas, der nach alter 
    Überlieferung Arzt gewesen sein soll, stellt nur nüchtern die Symptome 
    fest: Wenn du in deinen Problemen gefangen ist, kommst du aus eigener Kraft 
    nicht aus diesem Gefängnis heraus. Deine Wahrnehmung ist so sehr eingeschränkt, 
    dass alle anderen Dinge keine Rolle mehr spielen, nur noch dein Problem. Dazu 
    ein Beispiel aus meiner Tätigkeit als Saxophonlehrer: Ich vereinbare 
    mit einem Schüler, dass er versuchen soll, ein Musikstück möglichst 
    fehlerfrei zu spielen, d.h., alle Noten so, wie sie auf dem Notenblatt stehen. 
    Das gelingt ihm auch - bis auf eine einzige Note.  Anstatt sich dafür 
    zu loben, dass er 99,9% des Stückes richtig gespielt hat, sagt er sofort: 
    "Das war ja falsch!" 
  
Das ist absolut kein Einzelfall: Wer nur auf seine Fehler schaut, bekommt gar nicht mit, was ihm schon alles gelungen ist. Deine kleinste Schwäche wiegt tausendmal mehr als deine größte Stärke - nein, nicht vor anderen, vor dir selbst! Du bist selbst dein gnadenloser Richter. Du hast so viele Tomaten auf den Augen, dass du nur durch ein kleines Loch zwischen den Tomaten in die Wirklichkeit schauen kannst, und diesen kleinen Ausschnitt hältst du für die ganze Welt.
Unsere Emmaus-Jünger hatten sich auch so einen kleinen Ausschnitt aus 
    der Wirklichkeit zurechtgebastelt: Jesus hatte der versprochene Volksbefreier 
    sein sollen, und nun war er tot - fertig, Ende, aus. 
    Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende: der unerkannte Jesus begleitet 
    die beiden auf ihrem zwei, drei Stunden langen Weg nach Emmaus und nimmt ihnen 
    langsam, aber sicher die Tomaten von den Augen. 
    Als erstes lenkt er ihre Aufmerksamkeit auf die Bibel. Das können die 
    beiden als gemeinsame Gesprächsgrundlage akzeptieren, schließlich 
    glauben sie ja, dass ihre Sicht der Dinge gut biblisch begründet ist. 
    Gott hatte doch den Messias versprochen, oder? 
    Dann gelingt es Jesus, den beiden Jüngern zu zeigen, dass ihre Sicht 
    der Bibel nicht die einzig mögliche ist. Jesus erklärt ihnen Texte 
    aus den Prophetenbüchern, die eine ganz andere Sicht des Messias zeigen, 
    als die, die beiden kannten. Damit ist der Bann schon ein wenig gebrochen: 
    die beiden fangen an zu erkennen, dass es Dinge gibt, die in ihr bisheriger, 
    abgeschlossenes Weltbild nicht hineinpassen, und das ausgerechnet anhand der 
    Bibel, die sie doch zu gut zu kennen glaubten! 
  
Sie merken, dass ihr Glaube noch nicht fertig ist, dass es noch Wachstumsmöglichkeiten 
    gibt. Ihr Herz beginnt zu brennen, wie sie später sagen werden: sie merken, 
    wie sie wieder von innen heraus lebendig werden. 
    Sie lassen sich auf die neue Sicht der Dinge ein, die ihr unbekannter Begleiter 
    ihnen anbietet, und sie wollen mehr: Sie wollen, dass er bei ihnen bleibt, 
    als sie in ihrem Heimatdorf ankommen. Sie haben Angst, dass in der Dunkelheit 
    der Nacht die alten Ängste wieder kommen, dass das Neue, was gerade angefangen 
    hat, dann vielleicht wie eine Seifenblase zerplatzt. 
    Und nun bricht der Damm: sie erkennen Jesus, als er den Tischsegen spricht 
    und ihnen das Brot bricht. Sie haben sicher nicht am letzten Abendmahl teilgenommen, 
    aber sie waren ungezählte Male dabei, als Jesus mit denjenigen Tischgemeinschaft 
    hatte, mit denen sonst niemand Kontakt haben wollte: mit gesellschaftlichen 
    Außenseitern, Prostituierten, Verrätern am eigenen Volk. 
    Sie merken, dass hier das geschieht, was sie vorher immer nur bei anderen 
    beobachtet hatten: dass Jesus Menschen ohne Vorbedingungen seine Gemeinschaft 
    anbietet, egal woher sie kommen, egal was sie glauben, egal was für eine 
    Position sie haben. 
    Doch plötzlich ist er weg. 
  
Und nun? Bricht jetzt alles wieder zusammen? War die Begegnung mit Jesus 
    nur eine Selbsttäuschung? 
    Nein, die beiden sind wie umgekrempelt. Ihre neue Sicht der Dinge ist stabil, 
    sie haben sich wirklich verändert. Ihr Glaube ist ein Stück erwachsener 
    geworden, sie kreisen nicht mehr nur um sich selbst, sie sind offen für 
    das, was kommt. Sie lassen alles stehen und liegen und kehren den Weg zurück, 
    den sie gekommen sind, zurück nach Jerusalem, zurück zu den anderen 
    Jüngern und Aposteln, um alles zu erzählen und ihnen Mut zu machen. 
  
Lukas erzählt diese Geschichte nicht nur aus historischen Gründen, 
    sondern als Botschaft an seine Leserinnen und Leser: genau so wie damals ist 
    Jesus auch heute bei uns. 
    So wie damals ist Jesus nicht nur dann bei uns, wenn wir ihn erkennen. Er 
    geht unseren Weg von Anfang an mit, seine Gegenwart ist nicht davon abhängig, 
    wie gut oder wie richtig wir glauben. Er holt uns dort ein (oder ab), wo wir 
    gerade stehen oder gehen. Er lässt uns Menschen begegnen, die uns helfen, 
    unsere Tomaten auf den Augen langsam loszuwerden. Und er traut uns zu, dass 
    wir unseren Weg wieder ein Stück allein weitergehen, nachdem er uns gestärkt 
    hat. 
    Wenn wir gleich das Abendmahl feiern, dann lasst uns das in dem Bewusstsein 
    tun, dass Jesus uns dort so begegnen will, wie er den Emmaus-Jüngern 
    begegnet ist: Er bietet uns seine Gemeinschaft an, ohne dafür Bedingungen 
    zu stellen. Er bietet uns an, uns durch seine Gegenwart stärken zu lassen 
    für den Weg, der vor uns liegt. 
    Und wenn Jesus sagt: "Dieses Brot und dieser Wein, das bin ich selbst", dann 
    sagt er damit: ich will dir ganz begegnen, mit Haut und Haaren, nicht von 
    oben herab und nicht durch große Worte. 
  
Um diese Einladung anzunehmen, ist es - genau wie bei den Emmaus-Jüngern 
    - nicht wichtig, wie gut und wie richtig man glaubt. Wer am Abendmahl teilnimmt, 
    kann damit auch einfach sagen: Jesus, ich lasse mich darauf ein, dass du zu 
    mir kommst. Ich lasse dich an den Mauern vorbei, die mich schützen, aber 
    auch beengen. Ich lasse dich in mein Innerstes hinein, sogar dorthin, wo ich 
    mich selbst nicht mag, weil ich noch hoffe, dass ich mich verändern und 
    entwickeln kann. Vielleicht bist du ja wirklich derjenige, der das schafft." 
    
    Amen. 
  
Peter Athmann
.gif)