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Die Mauer und die Lüge

gesendet am 21. August 2011 von Dr. Hans Frisch
15.06.1961Walter Ulbricht sagt "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen" 

Es gibt verschiedene Arten von Lügen, wie zum Beispiel freche Lügen, Zwecklügen, Trostlügen und andere. Am ehesten werden Notlügen entschuldigt. Es gibt verschiedene Arten von Irrtum, wie zum Beispiel dummer Irrtum, leichtfertiger Irrtum, unvermeidlicher Irrtum – Nachsicht könnte wohl am ehesten der verzweifelte Irrtum erwarten.
15.06.1961Walter Ulbricht sagt "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen"

15.06.1961: In der Internationalen Pressekonferenz in Ostberlin sagt Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender, Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, auf die Frage einer westdeutschen Journalistin: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten"
Foto: Urheber unbekannt, Quelle: wikipedia.de unter Commons:Bundesarchiv

„Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“

Am Beginn der Mauer stand eine Lüge: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“ – an ihrem Ende ein Irrtum: „Noch in hundert Jahren wird sie stehen.“
Über beides, die Lüge und den Irrtum, lohnt sich nachzudenken.

Zumeist wird Ulbrichts Aussage vor der versammelten Presse als „freche Lüge“ bezeichnet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein klar denkender Mensch sie wirklich glauben konnte. Wir haben in Berlin studiert und als Ärzte gearbeitet. Ungehindert konnten wir nach Westberlin – ja, weil wir außerhalb wohnten, fuhren wir täglich zweimal durch ganz Westberlin mit der S-Bahn und passierten zweimal die Grenze zwischen der DDR und Berlin, immer mit Ausweiskontrolle.

Wenn wir nach einem Besuch der Mutter und der Geschwister mit der Bahn nach Berlin zurückfuhren, haben wir die Kontrolle in den Zügen miterlebt – auch wie Menschen bei Verdacht auf Republikflucht abgeführt wurden. An mancher Flucht waren wir aktiv beteiligt, mit Angst und Zittern. Trotz aller Kontrollen wuchs die Zahl der Flüchtlinge, denn der Besuch der Hauptstadt ließ sich nicht unterbinden – und wer in der Stadt war, der konnte mit S-Bahn, U-Bahn oder auch zu Fuß nach Westberlin, das war alliiertes Recht. Wir sind in den Vorlesungspausen aus der Charité über die Brücke in den Tiergarten gegangen, vorbei an der Schweizer Botschaft in West Berlin - der Reichstag war damals noch Ruine.

Den Aderlass durch den Flüchtlingsstrom kann die DDR nicht überleben

Grenzkontrolle am Brandenburger Tor August 1961
Grenzkontrolle am Brandenburger Tor August 1961
Foto: Rudolf Hesse Quelle: wikipedia.de unter Commons:Bundesarchiv

Man muss nicht Medizin studiert haben um zu wissen, dass eine starke Blutung gestoppt werden muss – zum Erste Hilfe Kurs gehört das Abbinden bei arterieller Blutung und das Festziehen, bis die Blutung steht.
1960 haben 225.000 Menschen die DDR verlassen, die meisten von ihnen waren jung, viele gut ausgebildet. Unter ihnen waren 388 Ärzte – zwei davon hießen Frisch. Warum sind wir gegangen?

Wir hatten studiert mit Stipendium, denn anders war es für die allermeisten nicht möglich. Kinder von Eltern, die ein Studium hätten finanzieren können, wurden in der Regel nicht zugelassen. Wir gehörten zu den Arbeiter- und Bauernkindern. Keinerlei Anfeindungen oder Behinderungen haben wir erfahren wegen unseres offen bekannten Christseins, außer vielleicht einer 4 bei der Prüfung in „Politische Ökonomie“ - die einzige Note, auf die ich stolz bin.

Selbstverständlich warteten Arbeitsstellen auf uns, und wir konnten die Fachrichtung frei wählen. Der Anfangsverdienst war eben ausreichend für unsere Familie mit drei Kindern und der Oma, die bei uns lebte - eine langsame Steigerung war programmiert. Wir wohnten sehr bescheiden und sehr billig, zuletzt aber dann in einem Haus, das durch Republikflucht freigeworden war.

Eigentlich hatten wir keinen Grund in den Westen zu gehen

Eigentlich hatten wir keinen Grund in den Westen zu gehen, und auch keine große Lust, denn wir kannten Westberlin und Westberliner. Doch dann kam das Gerücht auf (vielleicht war's auch mehr als ein Gerücht): „In der DDR wird die Ganztagsschule eingeführt.“ Das wollten wir nicht, dass unsere Kinder der Erziehung zum Sozialismus so umfassend ausgesetzt werden. Wir hätten noch warten können, ob es so kommt - doch uns war klar: Die Grenze wird dicht gemacht, denn den Aderlass durch den Flüchtlingsstrom kann die DDR nicht überleben. Wir hofften, dass der vorgesehene Termin in unserem Urlaub nicht zu spät ist - das war im Sommer 1960, und ich hätte hoch gewettet, dass es nicht mehr ein Jahr dauert.

Dass politische Beobachter, Journalisten, Sicherheitsdienste von dem Schließen der Grenze überrascht wurden, spricht allenfalls für gekonnte Organisation der DDR oder für mangelhafte Beobachtung und Beurteilung durch den Westen. Immerhin bedeutet die Journalistenfrage nach der Absicht, eine Mauer zu bauen, doch die Erkenntnis, dass nur eine solche das Problem der DDR lösen könnte.

August 1961: Aufstellen von Betonblöcken für die Berliner Mauer
August 1961: Aufstellen von Betonblöcken für die Berliner Mauer
Foto_ Helmut J. Wolf, Quelle: wikipedia.de unter Commons:Bundesarchiv

Was wäre passiert, wenn Ulbricht die Journalistenfrage offen beantwortet hätte?

Was wäre geschehen, wenn Ulbricht die Möglichkeit oder die Wahrscheinlichkeit zugegeben hätte, oder gar die Absicht? Die Flüchtlingszahlen hätten sich verdoppelt oder verdreifacht, und aus der Grenzschließung wäre eine Katastrophe geworden. Ihm blieb keine andere Möglichkeit als die Lüge – denn die Möglichkeit, dem Ausbluten seines Staates hilflos zuzusehen, die war ihm verwehrt als Führer im Auftrag Moskaus, das auch keine andere Möglichkeit sah.

Musik

Einiges spricht dafür, dass Ulbricht eine Notlüge nötig hatte, damals als er nach der Grenzziehung in Berlin gefragt wurde. Er hatte sie dringend nötig!
Die Wahrheit hätte mit größter Wahrscheinlichkeit einen Flüchtlingsstrom ausgelöst mit nicht absehbaren Folgen.

Der Tod der DDR durch Ausbluten war mit der Mauer verhindert – die Hoffnungen auf einen Aufschwung und den Sieg des Sozialismus im Wettkampf der Systeme, haben sich nicht erfüllt. Lange haben doch viele daran geglaubt oder darauf gehofft – auch eine gute Freundin. Sie hatte sich eingereiht in den Aufbau des Sozialismus. Zu tief saß der Schock, als sie nach dem Krieg erkannte, in was für einem System ihr Vater als Nazi mitgemacht hatte. Diese Erfahrung machte sie empfänglich für die Hetze gegen die angebliche „Renazifizierung“ in Westdeutschland. Lange haben wir mit ihr diskutiert – schließlich hat die Entwicklung sie überzeugt. Sie und ihre Tochter sind ein Jahr vor der Wende aus der SED ausgetreten.

1961: Bau der Berliner Mauer am Brandenburger Tor
1961: Bau der Berliner Mauer am Brandenburger Tor, links im Bild der Ostteil der Stadt
Foto: Luftbild, wikipedia.de
unter Commons:Bundesarchiv

Honeckers Irrtum

Von Honecker konnte man die Einsicht in die Aussichtslosigkeit nicht erwarten. Die Mauer war sein Gesellenstück; meisterhaft verdrängte er Walter Ulbricht aus der Führungsposition – doch jämmerlich wirkte er zuletzt.
Es ist schwer zu entscheiden, ob sein Irrtum, dass die Mauer noch in 100 Jahren steht, wenn es notwendig bleibt und seine Behauptung: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf“, ob das ein leichtfertiger, ein unvermeidlicher oder ein dummer Irrtum war. Wahrscheinlich musste er Augen und Ohren verschließen, um sein Scheitern, das Scheitern der DDR und des Sozialismus nicht wahrnehmen zu müssen. Eigentlich war es ein verzweifelter Irrtum. Den Mund halten konnte er in seiner Position nicht. Hat das eine Bedeutung?

Es zeigt zunächst, wie lange sich ein völlig morsches System halten kann, auch wenn die Führung versagt. Es zeigt auch, wie blind Ideologie machen kann, und wie böse (es gibt da noch schlimmere Beispiele). Und schließlich zeigt es, wie gute Absichten nicht vor bösen Wegen schützen. Welche Alternative hätte er gehabt, damals beim Bau der Mauer und zuletzt beim Zusammenbruch?

Die Erkenntnis: “Wir sind auf dem falschen Weg“, und zuletzt das Bekenntnis: „Wir haben versagt und sind schuldig geworden.“

Die Erkenntnis hätte wohl nicht geholfen, weil er den Weg nicht bestimmen konnte - doch hätte er persönlich Konsequenzen ziehen können. Das Bekenntnis konnte er kaum wagen angesichts der lauernden Öffentlichkeit und der Medien, die kaum Erbarmen kennen - doch hätte er seine Selbstachtung und die Achtung mancher nachdenklicher Menschen gerettet. Am Lauf der Geschichte hätte es nichts geändert - für solche, die sich auch ausweglos verrannt haben, hätte es aber eine Ermutigung zur Umkehr gewesen sein können.

Musik

Erkenntnis des Versagens und Bekenntnis der Schuld, das war's, was wir im Nachhinein Erich Honecker und vielen der damals Beteiligten, wünschen möchten. Und nicht nur denen.

Der Zusammenbruch eines schlechten Systems bringt nicht automatisch das Gute hervor

Mit Erschrecken mussten wir doch miterleben, wie der Zusammenbruch eines schlechten (und bösen) Systems nicht automatisch das Gute bringt, und dass die Anklage der Schuldigen uns nicht automatisch entschuldigt.
Sicher, auch wir sind in politischen, in gesellschaftlichen, in wirtschaftlichen und anderen Zwängen, in denen wir nicht unschuldig bleiben können - doch ist es ein Unterschied, ob wir unsere Schuldanteile erkennen, wo es notwendig wird auch bekennen, oder ob wir unsere Schuld projizieren auf „die Verhältnisse“, auf "die anderen", auf "die Feinde".

Wie kann Vergebung geschehen?

Es ist die zentrale Botschaft des Alten Testamentes, dass Schuld die Beziehung stört - die Beziehung zum Nächsten, die Beziehung zu mir selbst, die Beziehung zu Gott - und dass sie nur durch Vergebung aus der Welt geht. So entsteht Heil - beim Einzelnen, in der Gemeinschaft, im Volk. Ein einfacher und klarer Weg wird angeboten: „Wer inne wird“ - wer erkennt, dass er herausgefallen ist aus der intakten Beziehung - durch Untreue, durch Unwahrheit, durch Habgier, durch Machtstreben oder anderes, der bringe ein Tier aus seiner Herde zum Heiligtum und schlachte es dort (als Bekenntnis seiner Schuld). Dann kommt der Priester heraus, nimmt etwas von dem Blut und streicht an die „Hörner des Altars“, die vorstehenden Zacken an den Ecksteinen, „und ihm wird vergeben“.

Nicht das Opfer versöhnt die Sünde, was wäre das für ein Preis, ein Tier von vielen hunderten; nicht das Schlachten als Handlung, das war alltäglich; auch nicht das Blut als magische Substanz - das Erkennen und Bekennen ist die Voraussetzung der Vergebung, und das Heiligtum ist der Ort, an dem es gewagt werden kann, weil dort der Priester die Vergebung zuspricht. Das kann auch ohne Schlachten und ohne Blut geschehen, doch war die rituelle Handlung eine große Hilfe - so wie die Beichte, die Absolution und die Eucharistie in der katholischen Kirche heute noch sind.

„Soll das mit Ulbricht, mit Honecker und der Mauer etwas zu tun haben?“ fragst du vielleicht jetzt. Sie waren keine Juden und keine Katholiken und nach einem Weg, auf dem sie wieder und wieder schuldig wurden, ohne jemals den Zuspruch der Vergebung zu erfahren, da blieb schließlich nur die Projektion der eigenen Schuld auf den Feind, den „Klassenfeind“.

Viele Zeugnisse gibt es von Menschen, die sich verirrt oder verrannt hatten auf Wegen, die sie in Schuld geführt haben, in ausweglose Schuld, und die Ernst gemacht haben mit dem Angebot Gottes: „Du darfst kommen, du brauchst kein Opfertier - das Lamm Gottes hat sich für dich schlachten lassen; du brauchst keinen Priester der Blut an den Altar streicht - sein Blut ist dort an den Balken des Kreuzes“; und wenn du sagst: „Ja, dieses Lamm ist für mich gestorben“, dann ist es der Gekreuzigte, der dir die Vergebung zuspricht. Dramatische oder langsam wachsende Erfahrungen der Befreiung bezeugen viele Menschen, die dieses Angebot angenommen haben - auch ich.

Wenn du das nicht nötig hast - wirklich nicht - dann sei zufrieden, doch merke dir, dass dieses Angebot auch dir gilt. Den Beteiligten an der Mauer, an dem System, das die Mauer brauchte, denen, die ihren Anteil am Unheil auch auf der andern Seite der Mauer erkennen, und auch denen dies nicht erkennen, allen gilt es. Es könnte Mauern in den Köpfen, in den Herzen, in den Beziehungen und auch in der Gesellschaft durchbrechen.

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